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die Geschichte geht weiter wir haben das fehlende Bindeglied im Tellhofensemble
Text: André Beringer und Nora Fata, 8. April 2024

Wir haben das Glück, das Eckhaus an der Zwinglistrasse 22 zu erwerben, das seit fast seiner Entstehung im Jahr 1893 im Besitz der Familie Beringer war. Als der Urgrossvater das Haus und die Bäckerei übernahm, war Aussersihl mit der Militärkaserne und den umliegenden Blockrandbauten ein neues Quartier, ähnlich (und doch so ganz anders) wie die heutige Europaallee, die damals Spiel- und Arbeitsfläche für Kinder, Handwerker und Kleinbetriebe war.

Mit dem Haus erhalten wir auch ein Stück Quartiergeschichte.

Im Herbst 2019 waren wir bei den Eltern Beringer zu Besuch und haben den Geschichten gelauscht, wie es damals war, im Kreis 4 zu leben und hier die erzählten Erinnerungen aus einem langen Leben festgehalten. Louis Beringer ist zwei Jahre später, im Alter von 97 Jahren verstorben, und wir sind dankbar für diesen Abend und haben wir diesen besonderen Mann kennengelernt.

 Schon lange wird im Haus nicht mehr gebacken. Die Beringer-Kinder haben Aussersihl nach dem Studium verlassen, und nun übergeben sie uns ihr Haus, mit dem sie heute nur noch durch ihre Erinnerungen verbunden sind. Beim gemeinsamen Mittagessen wollten wir von ihnen wissen, was ihnen aus dieser Zeit als sie hier lebten, geblieben ist. Gerne hätten wir in diesem Zusammenhang alte Familienbilder gesehen. Doch Handys und den heutigen Selfiekult gab es damals nicht. Es gab  Fotografen für besondere Anlässe, aber keine Bilder aus dem Alltag, als es noch die Bäckerei gab und die Kinder in den Innenhöfen spielten. Stattdessen erhielten wir vom Sohn der Beringers in schriftlicher Form seine Erinnerungen an die Grossmutter, eine aussergewöhnliche Frau, und die Seifenkiste, die sie ihm gebaut hat. Wir möchten dieses schöne Bild hier teilen.

 «Am letzten Sonntag bin ich endlich dazu gekommen, meine Fotoschachteln nach Bildern aus meiner Kindheit zu durchforsten. Leider habe ich keine Aufnahmen aus meiner Kindheit gefunden, auf denen die Backstube, die Bäckerei oder meine Seifenkiste zu sehen wären. Bilder und Erinnerungen aus dieser Zeit sind aber in meinem Kopf gespeichert und das ist gut so. Ich sehe die Seifenkiste deutlich vor mir und auch, wie das Trottoir und der Innenhof der Zwingli- und Tellstrasse zu meiner ganz privaten Rennstrecke wurden. Dass die Zwinglistrasse aber leider nicht abschüssig war und somit für meine Rennmaschine eigentlich ungeeignet, stellte nur ein kleines Problem dar, hatte mir meine erfinderische Grossmutter doch zwei kurze Stecken mit Gummipfropfen am unteren Ende mitgeliefert. So war es mir dann trotzdem möglich, durch Muskelkraft aus den Armen gerade soviel Fahrt aufzunehmen, dass ich die Kurve in den Innenhof dank der beweglichen Vorderachse jeweils problemlos noch schaffte. In meiner Phantasie quietschten und rauchten die Reifen ganz gehörig, wenn ich in den Hof einbog und das hörte sich richtig gut an. War mein Renn-Abenteuer beendet, wurde die Maschine kurz gewartet und vorsichtig in die Garage, da wo heute das ‚Gül’ steht, geschoben und sie wartete ungeduldig auf ihren nächsten Einsatz. Die bewegten Bilder meines Kopfkinos trösten mich darüber hinweg, dass keine Photos meiner Seifenkiste zu finden sind. Und eins ist klar, meine Grossmutter war die allerbeste Grossmutter, die es gab. Sie war für mich der ruhende Pol und der eigentliche Mittelpunkt der Familie, immer für ihre Kinder und uns Enkelkinder da, konnte wunderbar kochen, hat für uns gestrickt, im Winter für uns aus ihrem Garten ein Eisfeld zum Schlittschuhlaufen gezaubert, mir den Rücken gekrault, auswendig Fabeln von Lafontaine rezitiert, gerne Witze erzählt und sie hat für mich eben sogar Seifenkisten gebaut. Autofahren hat sie nie gelernt, aber als junge Frau mit ihrem ‚Schaggi’ per Motorrad die Schweiz zu bereisen und in den Bergdörfern für Aufsehen zu sorgen, das liess sie sich nicht nehmen. Sie war eine beeindruckende, stolze Frau, auf die stets Verlass war. Nie hat sie gejammert, war immer gleich und war und ist uns allen in ihrer Bescheidenheit ein grosses Vorbild.  Was ich jedoch in einer Schachtel gefunden habe, ist eine Foto aus der Fasnachtszeit, so etwa um 1960. Und klar, ich wollte wie mein Vater Bäcker werden und ich war mir sicher, dass ich hierfür an der Uni Vorlesungen in ‚Teigologie’ würde belegen müssen. Dieser Wunschtraum endete aber jäh, als mir später bewusst wurde, wie früh der Arbeitstag eines Bäckers beginnt! Ich wurde also nicht Bäcker, auch wenn mein Grossvater dies gerne gesehen hätte, weil damit die Bäckerei Beringer, das Lebenswerk meines Urgrossvaters, das in Uster seinen Anfang genommen hatte, weiter Bestand gehabt hätte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass mein Vater der letzte Bäcker der Familie bleiben sollte. Nach meinem Vater übernahm Bernd Jung die Bäckerei und später mutierte diese dann zu einer Kunstgalerie, bevor sie vom Verein ‚Ali Munishi‘ kurzzeitig in eine Moschee umfunktioniert wurde. Danach wurden die Räumlichkeiten zu Gastrozwecken genutzt und dabei ist es ja bis heute geblieben. Ich bin gespannt darauf, wie die Zukunft der Zwinglistrasse 22 aussehen wird und bin mir sicher, dass sie in eurem Kosmos noch einmal richtig aufblühen wird.»
Meine Grosseltern Marguerite Marie (1901-2003) und Jakob Beringer-Pilloud (1899-1981). Bild aus den zwanziger Jahren, als das Abenteuer Zwinglistrasse 22 seinen Anfang nahm.

Die Seifenkiste und wie André damit fuhr, sehen wir vor unserem inneren Auge, ebenso wie die Grossmutter, eine wichtige Familienfigur, die auch schon in Louis' Erzählungen eine tragende Rolle spielte.

 Die Blockrandbebauung hat in ihrer über 130-jährigen Geschichte viel erlebt und sich immer wieder dem Wandel der Zeit angepasst.
Wir freuen uns, ein neues Kapitel aufschlagen zu dürfen und den Tellhof mit dem Eckhaus, das die Zwinglistrasse 20 und die Tellstrasse 20 verbindet, zu einem vollständigen Ensemble zu machen. Wir versprechen, die Geschichte mit Sorgfalt weiterzuspinnen.